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Auszubildende benötigen in der Pandemie mehr Schutz als vorher. Doch sie erleben meist das Gegenteil: gestresste Pflegende, weniger Anleitung, belastende Pflegesituationen. Oft fühlen sie sich hilflos und alleingelassen. Wie sich dieser Ausnahmezustand langfristig auswirkt, ist noch nicht absehbar. Erste negative Folgen sind aber schon jetzt erkennbar. 

Es war zu Beginn der zweiten Corona-Welle, als sich Auszubildende vermehrt an ihre Schulleiterin wandten. Sie hatten Sorge, auf die Infektionsstation oder die Intensivstation zu müssen, und äußerten Ängste, ihre Familie und Freunde anzustecken oder die anstehenden Weihnachtstage wegen Infektionsgefahr nicht zu Hause verbringen zu können.

Für die Leiterin des mittelgroßen Bildungszentrums in Nordrhein-Westfalen waren diese Gespräche Anlass, genauer hinzuschauen: Wie erfolgt die Ausbildung in einer Krisensituation wie dieser? Wer leitet die Auszubildenden an und reflektiert mit ihnen ihre Ängste und Sorgen? Und wie nehmen die Auszubildenden die Situation wahr? Zu- sammen mit einer pflegewissenschaftlichen Mitarbeiterin entwickelte sie dazu eine Online-Befragung mit zwölf geschlossenen und einer offenen Fragestellung, an der 94 Auszubildende von Oktober 2020 bis Januar 2021 teilnahmen. „Wir haben die Befragung zwar auf unsere Einrichtung begrenzt, gehen aber aufgrund der pandemischen Lage davon aus, dass es vielen Auszubildenden in anderen Einrichtungen ähnlich ergeht“, sagt die Schulleiterin. Dennoch möchte sie ihren Namen und ihre Bildungseinrichtung lieber nicht öffentlich nennen, um die Trägereinrichtungen nicht als schlechten Ausbildungsort dastehen zu lassen. „Generell haben wir eine ausgesprochen hohe praktische Ausbildungsqualität.“

Wie Auszubildende unter Corona leiden

Die Ergebnisse der Online-Umfrage zeigen, wie sehr es an Lernbegleitung und Praxisanleitung in der Pandemie mangelt. Nur 21 % der Befragten gaben an, dass sie ihre Praxisanleitung regelmäßig gesehen haben, 13 % haben sie nie gesehen. Strukturiertes Lernen mit einer Reflexion, wie es in einer vollständig angeleiteten pflegerischen Handlung vorkommt, haben lediglich 42 % der Auszubildenden mehrmals und 31 % einmal erlebt. Wenn Auszubildende isolierte Patientinnen oder Patienten pflegten, wurden dabei 39 % von ihnen im Zimmer alleingelassen. Nur bei 37 % der Auszubildenden war die Pflegefachperson mit im Zimmer oder eine Praxisanleitung in Rufweite.

Auch mussten die Auszubildenden in der zweiten Welle aufgrund des Personalmangels wiederholt auf anderen Stationen aushelfen oder wurden versetzt. Fünf Auszubildende wurden aus externen Einsätzen zurückgerufen, um auf der Intensiv- oder Überwachungs- station auszuhelfen, 39 Auszubildende mussten aus dem Frei einspringen. Mehr als 20 % der Auszubildenden wurden im Zeitraum der Befragung positiv auf SARS-CoV-2 getestet, davon drei Viertel mit Krankheitssymptomen. 37 % waren in häuslicher Quarantäne.

Die emotionale Belastung der Auszubildenden zeigt sich vor allem in den Freieinträgen, in denen sie eine besondere pflegerische Situation beschreiben sollten, die sie im Befragungszeitraum erlebt hatten. Hier schilderten sie, wie sie ihre erste Reanimation sahen, das erste Mal das Versterben eines COVID-19-Patienten mitbekamen oder sich hilflos fühlten, weil sie ihrem Patienten die Todesangst nicht nehmen konnten. „Besonders bedenklich ist, dass viele Pflegesituationen, vor allem mit Patienten in kritischen und lebensbedrohlichen Lebenslagen, kaum mit den Auszubildenden besprochen und reflektiert wurden“, sagt die Schulleiterin, die die Befragung initiiert hat.

Eine Auszubildende gab zum Beispiel an, dass sie nach dem Tod einer Patientin mit niemandem reden konnte und mit dieser traurigen Erfahrung allein ins Wochenende gehen musste. Eine andere schilderte als besondere Belastung: „Gesagt zu bekommen, dass man für acht Corona-Patienten zuständig ist, ohne vorher jemals eine echte Reanimation gemacht zu haben. Ich habe mir Stress ohne Ende gemacht.“ Eine weitere Auszubildende gab an: „Oftmals fehlen eine Praxisanleitung und generelle Betreuung durch die Pflegenden. Man muss sich viel selber aneignen und mit vielen Situationen allein fertig werden, da oft die Zeit der Pflegekräfte fehlt.“

Im permanenten Spagat

Christine Vogler, Geschäftsführerin des Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe (BBG), erlebt unter Corona ebenfalls, dass reflektiertes Lernen in der Praxis kaum noch stattfinden kann: „Die Pandemie verschärft im Grunde das, was auch schon vorher unser Problem war: Wir haben oft zu wenige Pflegefachpersonen vor Ort und schaffen es dadurch kaum, den Auszubildenden die notwendige Anleitung und Begleitung zu geben.“ In der Pandemie würden zudem die Teams häufiger wechseln und durch Zeitarbeitende oder Aushilfen ergänzt. „In solchen instabilen Strukturen fordern die Auszubildenden aus einem Verantwortungsgefühl gar keine Ausbildung mehr ein, sondern arbeiten einfach mit“, sagt Vogler. „Einige Auszubildende bekommen das gut hin, andere schaffen das aber auch nicht. Hier besteht die Gefahr, dass wir diese Menschen verlieren oder dass – aufgrund mangelnder Anleitung – Fehler passieren.“

Auch die Praxisanleitenden befinden sich im permanenten Spagat. „Sie fühlen sich zerrissen zwischen ihrer Ausbildungsverantwortung und dem Wunsch, ihr Team nicht im Stich zu lassen“, sagt die Bildungsexpertin Prof. Dr. Anke Fesenfeld. Die Crux sei: Selbst freigestellte Praxisanleitende werden im Moment oft als Reserve eingesetzt und müssen in der Praxis mitarbeiten. Darunter leiden die Auszubildenden, aber auch die Praxisanleitenden selbst. „Sie sind hoch motiviert und merken, dass sie im Moment weder ihren persönlichen Ansprüchen noch den gesetzlichen Vorgaben gerecht werden können“, sagt Fesenfeld, die im vergangenen Jahr rund 150 Praxisanleitende geschult hat.

Dabei sieht das neue generalistische Ausbildungsgesetz, das zum 1. April 2020 gestartet ist, einen verpflichtenden Anteil an Praxisanleitung vor: Jeder Auszubildende muss 10 % Praxisanleitung über qualifizierte Praxisanleitende erhalten – und das bei jedem Praxiseinsatz. „Von 120 Stunden praktischem Einsatz müssen also mindestens zwölf Stunden Praxisanleitung sein“, erläutert Fesenfeld. „Doch das Erste, was in der Pandemie hintenübergefallen ist, ist die Praxisanleitung.“ Gleichzeitig sind viele Weiterbildungen zur Praxisanleitung wegen Corona ausgefallen – dabei ist der Bedarf durch die generalistische Ausbildung immens gestiegen.

Seit einem Jahr treffen am Lernort Praxis drei Entwicklungen zusammen, die auf die praktische Ausbildung Einfluss nehmen: die Corona-Pandemie, der Fachkräftemangel und die neue generalistische Ausbildung. Jeder Punkt für sich wäre eine Herausforderung – zusammen: kaum leistbar. Hinzu kommt, dass sich das Verständnis für die generalistische Ausbildung bei den Kolleginnen und Kollegen in der Praxis erst noch entwickeln muss. „Die Umstellungen, die die neue Ausbildung mit sich bringt, sind in der Praxis noch nicht angekommen“, sagt Vogler. „Das wäre schon ohne Pandemie schwierig gewesen und geht jetzt völlig unter. Ich weiß gar nicht, ob man unter den jetzigen Bedingungen wahrgenommen hat, dass es die neue Ausbildung gibt.“

Gerade in der Krise die Ausbildung nicht schleifen lassen

In einer Pandemie die Ausbildung hintenanzustellen, ist – bei einem systemrelevanten Beruf wie der Pflege – jedoch gefährlich. „Corona hat uns gelehrt, wie anspruchsvoll Pflege ist und wie dringend wir gut qualifizierte Pflegefachpersonen brauchen“, sagt Prof. Dr. Anke Fesenfeld. „Umso wichtiger ist, dass Personalengpässe unabhängig von der Ausbildung gelöst werden. Auszubildende und Praxisanleitende sind keine Verfügungsmasse, die als Lückenstopfer eingesetzt werden dürfen. Aber das passiert gerade.“

Der jüngste Vorstoß des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn und der Bundes- familienministerin Franziska Giffey, Auszubildende bei Corona-Testungen in Pflegeheimen einzusetzen, geht genau in diese Richtung. Er wurde von Berufsverbänden scharf kritisiert. Der Vorschlag zeige einmal mehr den Stellenwert, den Pflegefachpersonen und deren Ausbildung in der Politik haben, kritisierte die Bundespflegekammer. „Erst Klatschen, dann die Querelen um den Bonus und jetzt Testung durch Auszubildende – das trägt nicht dazu bei, den Beruf der Pflege attraktiver zu gestalten. Und es ist das falsche Signal an die Berufsgruppe, die den Glauben an eine Verbesserung der Lage verliert“, sagt Franz Wagner, Sprecher der Bundespflegekammer und Präsident des Deutschen Pflegerats (DPR).

Auch der Bundesverband Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe (BLGS) äußerte sich kritisch zum Vorschlag der beiden Bundesministerien: „Wir lehnen es ab, unsere Auszubildenden jetzt noch stärker als bisher für die langjährigen hausgemachten Versäumnisse einer verfehlten Gesundheitspolitik büßen zu lassen“, heißt es in einer Pressemitteilung. „Die Zustände in der Pflegepraxis und die schulischen Einschränkungen wirken zum Teil so demotivierend, dass bereits eine Vielzahl vermeidbarer Ausbildungsabbrüche zu verzeichnen ist.“

Mehr Abbrüche im ersten Ausbildungsjahr

Denn auch wenn die langfristigen Folgen der Pandemie auf die Ausbildung noch nicht absehbar sind, ist schon eines deutlich: Die Abbruchquote im ersten Ausbildungsjahr scheint unter Corona deutlich höher zu liegen als sonst. Das zeigt eine erste stichprobenartige Befragung des BLGS. „Im Corona-Jahr haben 25 bis 28 % der Auszubildenden im Laufe des ersten halben Jahres ihre Ausbildung abgebrochen“, berichtet Christine Vogler, stellvertretende Vorsitzende des BLGS. Die normale Abbruchquote liege bei 19 bis 25 % – und das innerhalb von drei Jahren. Um die alarmierenden Ergebnisse abzusichern, befragt der BLGS jetzt noch 100 weitere Schulen.

Die Auszubildenden bekommen in der Pandemie zudem mehr Frust und Demotiva- tion der Pflegenden mit als ihnen guttut, befürchtet Vogler. Denn in Zeiten von Corona gebe es kaum noch Pflegende, die ihren Beruf mit Begeisterung vertreten. „Auch sehen die jungen Leute, wie Arbeitszeitgesetze und Personaluntergrenzen mal eben so ausgeknipst werden“, sagt Prof. Dr. Anke Fesenfeld. „Sie erleben, wie hilf- und teilweise auch rechtlos der Pflegeberuf in dieser Pandemie ist. Auch dieser Aspekt spricht sich herum und könnte sich langfristig negativ auf die Attraktivität des Pflegeberufs auswirken.“

Kurzfristige Lösungen in diesen turbulenten Zeiten sind schwierig. Vieles dreht sich darum sicherzustellen, dass die Auszubildenden in der Krise unter einen besonderen Schutz gestellt werden. Die Realität ist aber anders: „Auszubildende müssen kurzfristig einspringen oder werden während der Schulblocks noch abends oder am Wochenende zum Dienst einbestellt“, beklagt Fesenfeld. „Damit verbrennen wir genau diejenigen, die wir so dringend brauchen.“ Es gelte nun, den Ausnahmemodus zu verlassen und zurück in eine Normalität der Ausbildung zu finden. „Wir haben mit dem neuen generalistischen Gesetz eine attraktive Ausbildung“, sagt Fesenfeld. „Wir müssen nun den Lehrenden in Theorie und Praxis die Möglichkeit geben, die erarbeiteten Konzept auch zu leben.“

Klar müsse dabei sein: Praxisanleitende dürfen keine Notreserve für Engpässe sein. Fesenfeld empfiehlt Praxisanleitenden, für entsprechende Stellenbeschreibung zu sorgen, in denen der prozentuale Anteil für die Praxisanleitung schriftlich festgelegt ist und dann auch eingehalten wird. Auch müssten die Träger realisieren, dass die Kosten für die Praxisanleitung mit dem neuen Gesetz refinanziert werden und sie damit eine verbindliche Praxisanleitung sicherzustellen haben.

Das Verantwortungsgefühl für den Nachwuchs stärken

Christine Vogler hofft zumindest auf einen positiven Effekt der Pandemie – dass das Verantwortungsgefühl für die nachkommende Pflegegeneration steigt. „Die Ausbildung muss das Herzstück unseres Berufs sein. So sollten auch alle Auszubildenden behandelt werden, und das nicht nur von den Praxisanleitenden, sondern von allen Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen uns über jede und jeden freuen, die diesen Beruf neu ergreifen.“ Wichtig sei zudem, über den Bedarf hinaus auszubilden – und das nicht nur in schlechten Zeiten. „Wenn die Pandemie vorbei ist, bleibt der Fachkräftemangel“, sagt Vogler, „und hier sind sehr viel weitergehende Maßnahmen gefragt, um die Attraktivität des Berufs zu verbessern und damit auch mehr Nachwuchs zu gewinnen.“

Das Lob der Gesellschaft hat die Zufriedenheit der Auszubildenden zumindest nur wenig beeinflusst, wie die vorgestellte Befragung des Bildungszentrums zeigt. Viel motivierender waren die Rückmeldungen der von ihnen versorgten Menschen sowie der Angehörigen. „Es gibt viele besondere Momente, wenn man merkt, wie dankbar die Patienten gerade in dieser Zeit sind, alleine dadurch, dass man da ist“, brachte es eine Auszubildende auf den Punkt. Eine andere schrieb: „Patienten, die mich als ‚Engel‘ oder ‚Schatz‘ bezeichnet haben, haben mein Leben bereichert, weil ich eines meiner Ziele erreicht habe: Patienten zum Lächeln zu bringen.“

Quelle: https://www.bibliomed-pflege.de/sp/artikel/42615-ich-habe-mir-stress-ohne-ende-gemacht
Foto: Wie verändert sich der Arbeitsalltag von Pflegeazubis in der Corona-Pandemie? Erste negative Folgen sind bereits erkennbar.
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